Nach langer emotionaler Diskussion um eine mögliche Aufnahme des nicht-invasiven Bluttests auf Trisomien als Kassenleistung wurde am 19.09.2019 eine Entscheidung getroffen: Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) hat den umstrittenen Test als Kassenleistung freigegeben, allerdings unter engen Voraussetzungen. Zum einen muss eine sogenannte „Risikoschwangerschaft“ vorliegen und zum anderen muss eine ärztliche Beratung verpflichtend erfolgen. Somit soll vermieden werden, dass der Test als ethisch unvertretbares Screening zur vorgeburtlichen Selektion missbraucht wird. Trotzdem äußerten sich zahlreiche Behindertenverbände kritisch, denn sie befürchten einen weiteren Anstieg der Abtreibungsrate wenn Eltern nun frühzeitig (ab der 10. Schwangerschaftswoche) und unkompliziert die Chromosomenstörungen Trisomie 13, 18 und 21 testen lassen können- bereits jetzt liegt die geschätzte Abtreibungsrate nach einer Diagnose Down Syndrom in Deutschland bei 90 %.
Vergessen wird hierbei häufig, dass auch der nicht-invasive Bluttest nur ein sogenannter „Screening“-Test ist, also keine gesicherte Diagnose liefert. Im Falle eines positiven Tests und dem Wunsch der Eltern nach Abtreibung sollte also eine anschließende Diagnose durch eine Fruchtwasseruntersuchung erfolgen, denn auch falsch-positive Tests können auftreten. Das Screening ist zwar grundsätzlich risikoärmer als die Fruchtwasseruntersuchung, kann diese jedoch nicht ersetzen.
Bei der Diskussion um den Bluttest auf Trisomie 21 muss man sich auch die Frage stellen, warum die Abtreibungsrate in Deutschland (und anderen Ländern) so hoch ist. Ein wichtiger Grund ist die Weitergabe von veralteten Informationen und Vorurteilen an die Eltern, z.B. durch den Arzt, der die Diagnose mitteilt, sowie ein Mangel an Hilfen, die Eltern zur Verfügung stehen. Sei es durch lokale Vereine, Facebook-Gruppen für den Austausch, Möglichkeiten inklusiver Kitas und Schulen sowie einer Perspektive für die Zukunft – wer entscheidet sich schon für ein Kind, wenn von Anfang an niemand da ist, der Mut macht? Wenn einem in Schwangerschaftswoche 20 mitgeteilt wird, dass das Kind aufgrund eines Herzfehlers nie einen normalen Kindergarten besuchen wird? Wenn einem noch in der Schwangerschaft mitgeteilt wird, dass das Kind vielleicht nie Laufen und Sprechen lernen wird? Wenn es zwar heute auf dem Papier Inklusion gibt, jedoch die Auswahl an guten Grundschulen verschwindend gering ist, von weiterführenden Schulen ganz zu schweigen? Ohne Perspektive, Hoffnung und Mut werden sich zwangläufig nur wenige Eltern aktiv für ein Kind mit Behinderung entscheiden. Natürlich ist das Leben mit einem behinderten Kind nicht immer rosig, es gibt schwere begleitende Erkrankungen des Down Syndroms (z.B. Herzfehler, Leukämien und Epilepsien) und es ist nicht einfach in einer Gesellschaft zu leben, die alles andere als inklusiv denkt und lebt. Doch jedes Kind hat ein Recht auf Leben und kein Elternteil sollte jemals der quälenden Entscheidung ausgesetzt sein, ob es sein Kind besser abtreiben lassen sollte. Auch wenn ich das Recht der Mütter auf Abtreibung unterstütze, so wünsche ich niemandem, mit diesem Schmerz leben zu müssen.
Auch wir standen vor der schweren Entscheidung ob wir unser Kind behalten möchten oder nicht. Mittlerweile kenne ich durch verschiedene Online Communities tausende Eltern auf mehreren Kontinenten und sie alle erzählen dieselbe Geschichte: dass es das Kind wert ist, dass das Leben durch das Down Syndrom bereichert wird und dass sie diese Entscheidung immer wieder treffen würden. Die Liebe zu einem Kind mit Down Syndrom ist mindestens genauso stark, wie zu jedem anderem Kind.
Auch ich habe den nicht-invasiven Bluttest zwei Mal genutzt, würde ihn jederzeit wieder nutzen und weiterempfehlen. Denn nicht nur ist er risikoarm (eine einfache Blutentnahme testet die Chromosomenzahl der kindlichen Zellen im mütterlichen Blut), er bietet auch eine ungemein wichtige Chance: Eltern wissen bereits frühzeitig, ob eine Chromosomenstörung vorliegt und können sich vorbereiten (von der Wahl des Geburtsortes über die Organisation von entsprechenden Hilfen). Noch wichtiger ist meiner Meinung nach jedoch die Möglichkeit der pränatalen Behandlung des Down Syndroms. Kinder mit Down Syndrom werden immer wieder als „nicht krank, aber anders“ beschrieben. Auch nach der Entscheidung um den Bluttest verkündeten verschiedene Verbände, dass das Down Syndrom keine Erkrankung sei. Die behindertenpolitische Sprecherin der Grünen, Corinna Rüffer, erklärte ihre Abneigung gegen den Test mit den Worten: „Trisomie 21 ist keine Krankheit, sondern eine genetische Abweichung“. Für mich als Genetikerin waren solche Sätze schon immer schwer nachvollziehbar. Denn ein Gen ist lediglich eine Vorlage für ein Produkt und dieses erfüllt eine Funktion im Stoffwechsel des menschlichen Körpers. Ist das Gen in seiner Ausprägung verändert (d.h. es fehlt, ist kaputt oder ist wie beim Down Syndrom drei Mal vorhanden), so ändert sich auch die Ausprägung seiner Funktion.
Jérôme Lejeune, der Entdecker der Ursache des Down Syndroms, hat frühzeitig erkannt, dass es sich bei der Trisomie 21 um eine Stoffwechselerkrankung handelt: „Down Syndrom als eine metabolische Erkrankung zu betrachten, würde zu einem Perspektivwechsel führen, besonders unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Behandlung. Der Fokus muss verschoben werden, von dem was vorgelagert ist (Gen-Überschuss oder Gendefekt), zu dem was nachgeschaltet ist (Gen Produkt). Der „blockierte“ Mechanismus, der die Schwere der Erkrankung bestimmt und die spezifischen beteiligten Moleküle dieses komplexen Mechanismus könnten identifiziert werden, wie es bereits bei anderen komplexen Erkrankungen eingetreten ist“ (Lejeune, 1990). Knapp 30 Jahre nach Lejeunes Beschreibung als metabolische Erkrankung wird das Down Syndrom jedoch immer noch nicht adäquat behandelt. Die Erkenntnis, dass Trisomie 21 behandelbar ist, hat eine zentrale Rolle in unserer Entscheidung gespielt, die Schwangerschaft nicht abzubrechen.
Es gibt zahlreiche Stoffwechselerkrankungen, auf die Neugeborene bei einem Screening getestet werden- von Phenylketonurie über angeborene Schilddrüsenunterfunktion bis zu Störungen im Biotinstoffwechsel. Das Neugeborenen Screening auf behandelbare, angeborene Stoffwechseldefekte ist eine wichtige Präventionsmaßnahme in Deutschland und anderen Ländern. Es gibt Kindern die Chance auf ein langes, gesundes und möglichst normales Leben. Ich kenne keine andere Erkrankung, bei der so umfassend akzeptiert wird, dass nichts getan werden kann wie das Down Syndrom. Für jede andere Erkrankung gälte eine Entscheidung grundsätzlich nicht zu behandeln als unethisch und nachlässig. Anstatt die Entscheidung, den nicht-invasiven Bluttest auf Trisomie 21 als Kassenleistung zuzulassen zu verurteilen, spreche ich mich für den Test und damit die frühzeitige Behandlung des Down Syndroms aus.
In meiner Praxis ist das Down Syndrom einer meiner Hauptschwerpunkte und seit der Eröffnung im Juli 2019 habe ich vom 18 Monate alten Kind bis zur Erwachsenen mit Down Syndrom bereits das ganze Spektrum behandelt- das Down Syndrom stellt sich mit einer komplexen Vielzahl von Erkrankungen und Symptomen dar. Zum Auftakt des Down Syndrom Awareness Month möchte ich Eltern Mut machen, ihre Kinder mit Down Syndrom willkommen zu heißen und ihnen die Chance auf ein gesundes Leben zu geben. Würden sich 90 % der Eltern gegen ihr Kind entscheiden, wenn sie wüssten, dass das, was wir als Down Syndrom kennen, eine Folge der Stoffwechselerkrankung ist?
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